Osteopathie Kinder

Osteopathie in der Pädiatrie
Seit vor rund 120 Jahren die Osteopathie durch den amerikanischen Arzt Dr. Andrew Taylor Still als eine neue Art der Heilkunde entdeckt wurde, erzielt sie ihre Erfolge in der Wiederherstellung, bzw. in der Erhaltung der Selbstheilungskräfte.

Nimmt man die wörtliche Übersetzung von “Osteopathie”, so kommt man zu dem irreführenden Schluss, dass es sich hier um die “Leiden der Knochen” handelt. Dieses ganzheitliche Verfahren stellt aber weitaus mehr dar als “nur” orthopädische Leiden. Der osteopathische Therapeut untersucht mit seinen Händen die funktionelle Einheit des Körpers in Hinblick auf die Einflüsse, die ihn formen, seine Gesundheit und seine Krankengeschichte. Er kommuniziert direkt mit dem Organismus ohne Instrumente und Apparate.

Struktur und Funktion beeinflussen einander wechselseitig
Für den Osteopathen sind der Organismus und der Mensch eine globale Einheit. Für eine wirksame Diagnose und Behandlung wird diese Einheit jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Osteopathen sprechen von drei Bereichen, die unterschiedlichen Abschnitten des Organismus zugeordnet sind und dennoch nicht isoliert betrachtet werden dürfen.
-  Parietale Osteopathie umfasst den Bewegungsapparat.
-  Viszerale Osteopathie umfasst die inneren Organe, Blutgefässe, Lymphgefäße und Nerven.
-  Kraniale Osteopathie umfasst die Schädelknochen, die Wirbelsäule, den Liquor, die Membranen sowie Hirn- und Rückenmark.
Neben der Anatomie und der Physiologie ist die Embryologie von großer Bedeutung.

Die embryologische Entwicklung und ihre Auswirkungen
Seitdem das Wissen um die Bedeutung der intrauterinen Lebensqualität erforscht wird, stellt sich auch die osteopathische Medizin der Notwendigkeit dieser Betrachtung für spätere Funktionsstörungen.

Die Lehre der Embryologie erklärt die einzelnen Entwicklungsstadien von der Embryonalphase bis hin zum lebensfähigen Fetus. Diese Kenntnisse über die Entwicklung der einzelnen Gewebe und Organe sind wesentliche Grundlagen, um Prozesse wie z. B. das Knochen- und Gewebewachstum, das Zusammenwirken verschiedener Körperfunktionen und die Entstehung von Dysfunktionen besser zu verstehen. Die Embryonalphase (ersten 12 Wochen) ist demnach besonders wichtig für die Diagnostik, da hier alle wichtigen Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt werden.

Der Embryo ist in dieser Zeit besonders äußeren Einflüssen gegenüber sehr empfindlich. Er benötigt nicht nur eine optimale Versorgung von der Mutter, sondern vor allem auch Platz. Demzufolge ist es wichtig, funktionelle Einflüsse, die auf den Embryo und später auf das Baby einwirken, so früh wie möglich zu erkennen und zu behandeln. Eine osteopathische Behandlung von Beginn der Schwangerschaft an ist sinnvoll, vor allem, wenn seitens der Mutter Dysfunktionen vorhanden sind.

So kann z. B. ein zu kleiner Uterus Auswirkungen auf die Entwicklung der Gliedmaßen des Ungeborenen haben. Asymmetrien des Beckens der Schwangeren können die Schädellage beeinträchtigen. Auch Zwillingsschwangerschaften sind in Anbetracht des Platzmangels eine Indikation für eine osteopathische Behandlung unter der Schwangerschaft. Die letzten drei Schwangerschaftsmonate und die ersten beiden Lebensjahre sind aus osteopathischer Sicht recht kritische Phasen für das kleine Lebewesen. Die Ausformung des Schädels wird hier abgeschlossen. Die Schädelknochen sind in ständiger Bewegung, da sie sich fortwährend vergrößern und zusammenwachsen. Dieser Prozess ist auch mit der Geburt noch nicht abgeschlossen, wenn man nur einmal von dem langsamen Schließen der Fontanellen ausgeht. Der Schädel des Neugeborenen hat 45 Knochen, beim Erwachsenen sind es 22. Folgende Prozesse sind an diesen Wachstumsbewegungen beteiligt:
-Bewegung einzelner Knochenteile durch unregelmäßiges An- und Abbauen von Gewebe.
-Aktive Bewegung des gesamten Knochens in die entgegengesetzte Richtung des Wachstums: so wird z.B. der Oberkiefer nach ventral bewegt, während eine Ossifikation nach dorsal hin stattfindet.
-Passive Bewegung des gesamten Knochens als Reaktion auf Wachstumsbewegungen anderer Knochen.

In Anbetracht dieser Komplexität muss die Geburt als eine weitere kritische Phase für die Entwicklung des Kindes beleuchtet werden.

Die Geburt, ein entscheidendes Ereignis in der Entwicklungsphase
Es ist allgemein bekannt, was für unbeschreibliche Kräfte während der Entbindung auf den kleinen Körper und vor allem auf den Schädel des Babys einwirken. Diesen Kräften hat die Natur z. B. durch die faszinierenden Eigenschaften der Schädelnähte bestens entgegengewirkt.

Die durch den Geburtsvorgang entstandenen Deformationen werden meistens innerhalb der ersten Stunden und Tage mittels Atmung, Saugen und Schreien kompensiert. Und dennoch reichen oftmals die von der Natur mitgegebenen Selbstheilungskräfte nicht aus, um alle Störungen auszugleichen. So kann z. B. der Geburtskanal anatomisch gesehen so erheblich eingeschränkt sein, dass hierbei besonders auf den Schädel massive Kräfte ausgeübt werden. Die natürlichen Regulationsmechanismen des Kindes reichen dann zur Kompensation nicht mehr aus.

Das Spektrum der Dysfunktionen kann sich von einer leichten Schädelasymmetrie bis hin zum Schiefhals belaufen. Auch der Tonus der Membrane über den Schädelöffnungen kann erhöht sein, was sich wiederum auf die vaskuläre und nervale Versorgung auswirken kann. Schluck- und Saugstörungen sowie Erbrechen bei Säuglingen sind oft auf solche Störungen zurückzuführen.

In einigen Fällen wird sogar beobachtet, dass die Auswirkungen einer Geburt auch erst im Schulalter erkannt werden; hier stellt man z. B. eine unerklärliche Lernstörung fest oder man diagnostiziert eine Wirbelsäulenverkrümmung unklarer Genese.

Eine frühzeitige osteopathische Behandlung kann hier dazu beitragen, dass Fehlspannungen und Bewegungseinschränkungen, die auf die Geburt zurückzuführen sind, durch die Selbstheilungskräfte wieder aufgelöst werden, ohne dass das Kind spätere Auswirkungen ertragen muss. Aus diesem Grund setzten sich Osteopathen (vor allem in den USA) dafür ein, dass jedes Neugeborene zusätzlich von einem Osteopathen präventiv untersucht und ggf. auch behandelt wird. Eine Zusammenarbeit mit den Hebammen und Kinderärzten ist hierfür ausgesprochen wichtig. Allerdings darf auch die Aufklärungsarbeit in Sachen Osteopathie nicht in den Hintergrund geraten, denn leider ist die Osteopathie immer noch nicht so weit etabliert, dass die Eltern des Neugeborenen sich ohne weitere Erläuterungen für eine osteopathische Untersuchung bereit erklären.

Diagnostik und Therapie
Die Diagnostik beginnt zunächst mit einer Anamnese über Schwangerschaft und Geburt. Die Untersuchung kann dann in den Armen der Mutter (Vater) geschehen oder auf dem Schoß des Therapeuten. Unabhängig von möglichen Symptomen  geschieht eine Gesamtuntersuchung, da die Osteopathie eine ganzheitliche Medizin darstellt. Eine ausschließlich kraniale Diagnostik wäre hier wie in allen anderen Naturheilverfahren auch zu wenig und letztendlich rein symptombezogen.

Der Osteopath untersucht mit einfachen Tests, abhängig vom Alter, die sensomotorische Entwicklung des Kindes.

Des weiteren untersucht der Therapeut die Beweglichkeit und Gewebespannung des kindlichen Schädels, da dieser wie vorab beschrieben oftmals durch das Geburtstrauma Funktionsstörungen aufweist. Zum genaueren Verständnis sei hierbei der Primäre Respirationsmechanismus (PRM) erläutert, der eines der wichtigsten diagnostischen Mittel des Osteopathen ist.

William Garner Sutherland, einer der bedeutendsten Schüler Stills, entdeckte ein bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekanntes Phänomen, den PRM. Dieses stellt sich, wie die Atmung oder der Herzschlag, als ein autonom funktionierendes  System dar. Hierbei handelt es sich um äußerst filigrane Bewegungen, die der Behandler am gesamten Körper spüren kann. Der Osteopath spricht hier vom “Zuhören”.

Woher kommen nun diese rhythmischen Bewegungen? Die Neubildung des Liquors geschieht ca. acht- bis zwölfmal in der Minute. Dabei gibt es in den Hirnkammern minimale Druckveränderungen, die sich auf die Hirnhäute übertragen und folglich auch auf die beweglichen Schädelknochen. Sind diese aber durch traumatische Kompressionen in ihrer Mobilität beeinträchtigt, so hat das entsprechende Auswirkungen auf den Primären Respirationsmechanismus und somit auf den gesamten Organismus. Dies ist allerdings nur eine Theorie, die ihre Legitimität in weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen sucht. Sicherlich kann man insgesamt von einer sehr sanften Medizin sprechen, da für die Diagnostik und für die Therapie ausschließlich geschulte und sensible Hände benötigt werden.

Aus der Praxis eines Osteopathen
Der französische Osteopath Jean Pierre Barral, D.O., erzählt, dass er in nur einer Konsultation einem “Schreibaby” helfen konnte:

“Die Eltern kamen mit ihrem zwei Monate alten Sohn in die Praxis und erzählten von ihrem kleinen Sprössling, der nicht mehr als sieben Stunden am Tag schläft und nachts ebenfalls entsprechend wenig. Zudem hat er unzählige Schreiattacken, die das Unwohlsein des Kindes deutlich zum Ausdruck bringen würden. Sie berichteten von einer schwierigen Schwangerschaft; das Baby sei zu schwer gewesen und habe auf Rücken und Wirbel der Mutter gedrückt. Bei der Entbindung übte die Hebamme einen so massiven Druck auf den Bauch aus, dass das Kind mit blutunterlaufenem Gesicht und roten Spuren auf dem Schädel zur Welt kam. Kurze Zeit später begann ihr Sohn zu schreien und konnte sich wohl kaum beruhigen.”

Die Ursache fand Barral bei der Untersuchung des Schädels: als er ihn berührte, hatte er das Gefühl einen “Stein” zwischen seinen Händen liegen zu haben. Die kraniale Bewegung war nicht spürbar. Im weiteren Verlauf der Therapie konnte er einige sehr kleine Bewegungen spüren, und der Stein verwandelte sich allmählich in einen Ballon, wesentlich elastischer und lebendiger.

Die Eltern berichteten anschließend, dass ihr kleiner Sohn direkt nach der Behandlung 14 Stunden geschlafen habe und das Kind von nun an einen ausgeglichenen und ruhigen Eindruck mache. Was wäre doch den Eltern erspart geblieben, wenn man, wie schon erwähnt, alle Neugeborenen postnatal osteopathisch untersuchen würde!

Barral ist ein international anerkannter Dozent und Autor zahlreicher Fachbücher. Er war erheblich an der Differenzierung der viszeralen Osteopathie beteiligt.

Bei dem oben geschilderten Fall ging es ausschließlich um die Beeinträchtigung des Primären Respirationsmechanismus. Wenn nun aber die Behandlung eines älteren Kindes erfolgt, ist der Umfang der Untersuchung wesentlich höher, da hier meist schon aus den anfänglichen Funktionsbeeinträchtigungen Strukturstörungen entstanden sind.

Die Behandlung der Kinder ist in den meisten Fällen äußerst erfolgversprechend. Das liegt einmal an der guten Compliance und andererseits an den schnellen Reaktionen des Organismus auf die Behandlung. Abgesehen von einigen schwerwiegenden Erkrankungen ist der kindliche Organismus noch lange nicht so in seinem Schema “festgefahren”, wie es bei erwachsenen Patienten oft der Fall ist. Bei der Mehrzahl der Kinder ist die Indikation einer osteopathischen Behandlung gegeben, da die inneren und äußeren Einflüsse auf das Wachstum in der Zeit von der Geburt bis zur Pubertät am größten sind. Die rasanten Schritte der einzelnen Entwicklungsphasen üben eine so große Herausforderung auf den kleinen Organismus aus, dass die daraus resultierenden Kompensationen offensichtlich sind. Eine spätere Erkrankung wird durch eine präventive osteopathische Behandlung demnach soweit wie möglich verhindert.

Strukturelle und funktionelle Veränderungen aus osteopathischer Sicht
Um die Auswirkungen der Kompensationen, funktionelle oder strukturelle Störungen deutlich zu machen, hier einige Beispiele aus den einzelnen Bereichen der Osteopathie.

Parietale Osteopathie - Der Fehlbiss
Finden wir beispielsweise eine eingeschränkte Mobilität im Os parietalis, so überträgt sich das auf das Os mandibularis, welche gelenkig miteinander verbunden sind. Die Folge ist ein verändertes Wachstum des Unterkiefers.

Therapieplan: Ursachensuche nach Mobilitätsverlust im Schädelbereich, Kiefer, Hals, Kehlkopf oder HWS.
Wichtig hierbei ist die Zusammenarbeit mit dem Zahnarzt!

Viszerale Osteopathie - Asthma
Ungefähr 10 % aller Kinder leiden an Asthma, das somit die häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter ist.

Therapieplan: Finden wir eine allergische Genese, so behandelt er viszeral das lymphatische System. Allerdings gibt es aus osteopathischer Sicht neben den multiplen patho-physiologischen Ursachen noch einen Zusammenhang mit der Darmschleimhaut. Diese wird in der embryonalen Entwicklung ebenso wie die Bronchialschleimhaut aus dem dritten Keimblatt gebildet. Eine Funktionsstörung der Darmschleimhaut kann über eine nervale und hormonelle Rückkopplung eine Veränderung der Bronchialschleimhaut beeinflussen und das Asthma bronchiale begünstigen.
Der Osteopath untersucht demzufolge nicht nur den Brustkorb, sondern auch den Darm.

Kraniale Osteopathie - Schielen
Ca. 3 - 4 % der Kinder schielen. Ungleiche Augenmuskeln, die zu einer unterschiedlichen Veränderung der Lichtbrechung führen, sind oftmals die Ursache.

Therapieplan: Reizungen der Hirnnerven können z. B. Ursache für solche Funktionsstörungen sein. So innerviert der N. occulomotorius u. a. auch einen Augenmuskel, der das Auge nach außen hin bewegt. Wird nun der Nerv im Kanal von Dorello gereizt bzw. komprimiert, ist der Muskel folglich ineffizient, und das Auge kann nicht mehr entsprechend nach außen drehen. Lokalisation des therapeutischen Ansatzes ist demnach der Übergang der Spitze des Schläfenbeins zum Keilbein.

Osteopathie und Kinderkrankheiten
Die bekannten Kinderkrankheiten werden meist durch die klassischen Schutzimpfungen behandelt, bzw. prophylaktisch angegangen.

In der Osteopathie werden Schutzimpfungen nicht befürwortet, da ein gesundes Kind den Herausforderungen einer Kinderkrankheit ohne weitere Folgen standhalten kann. Haben wir jedoch ein Kind, das Defizite im Immunsystem vorweist, sollte man ernsthaft über eine Impfprophylaxe nachdenken. Doch sollte der Organismus auch in der Lage sein, die Impfung ohne großartige Reaktionen zu verkraften.

Der Osteopath kann die eventuellen Auswirkungen auf die entsprechenden Erfolgsorgane untersuchen und beurteilen. Es wird z. B. bei einer Mumpsimpfung Pankreas, Glandula parotis sowie das Gewebe, das aus dem inneren Keimblatt entstanden ist, untersucht, da sich der Mumpserreger hier manifestiert.

Stellt er an den jeweiligen Geweben Funktionsstörungen fest, so therapiert er diese, damit sich die Organe regenerieren können und sie somit den abgeschwächten Erregern problemlos widerstehen können.

Die o. g. Krankheiten stehen stellvertretend für eine Menge von Erkrankungen und Dysfunktionen. Wichtig sei jedoch zu betonen, dass die Osteopathie niemals die Konsultation eines Kinderarztes ersetzt. Nur eine gute Zusammenarbeit kann der Gesundheit unserer Kinder dienen.

Zweifelsohne gibt es wie in allen anderen Naturheilverfahren auch gewisse Grenzen, die unbedingt zu beachten und einzuhalten sind. Um so wichtiger ist es, die fundierte und einheitliche Ausbildung zum Osteopathen zu betrachten; nicht nur im Sinne der Kinder, sondern aller Patienten.

Aus der Zeitschrift: Naturheilpraxis 10/200 1 - Verfasserin: Karin Tschirn

 

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